July 10, 2024

Vor Ort: Partizipation und Kooperation für eine nachhaltige lokale Entwicklung

Anke Kaschlik
ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Soziale Arbeit

Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten und unbewusstes Handeln machen unser tägliches Leben überhaupt erst möglich, stehen dabei aber auch positiven, transformativen Veränderungen entgegen. Diese Beständigkeiten werden unter dem Stichwort "Pfadabhängigkeiten" diskutiert. Jürgen Beyer (2006) hat das Modell der Pfadabhängigkeiten erfolgreich auf den sozialwissenschaftlichen Kontext übertragen. Dabei hat er Mechanismen herausgearbeitet, welche Stabilisierungen bestehender Verhältnisse begünstigen – wie Macht/-asymmetrien, Selbstverstärkungseffekte, Konformität oder Legitimitätsfragen – und jeweils auch Destabilisierungsoptionen benannt, unter welchen die Mechanismen der Stabilität überwunden werden (können). Bei in unserem Sinne konstruktiver Destabilisierung geht es dabei um Veränderungen der Umwelt oder von Diskursen, die neue Einblicke ermöglichen und Handlungsnotwendigkeiten aufzeigen. Für eine Entwicklung in Richtung Nachhaltigkeit sind es beispielsweise die immer sichtbarer/spürbarer werdenden Wirkungen des Klimawandels oder die immer intensiveren Debatten um die Klimawirkungen einer auf tierischen Produkten basierenden Ernährung. Aktuelle Kriege, Fluchtbewegungen oder soziale Bewegungen wie MeToo und BlackLivesMatter haben auch jenseits der Nachhaltigkeitsproblematik das Bewusstsein erweitert und die Notwendigkeit von Veränderungen vor Augen geführt.

Neben diesen Sensibilisierungen und Perspektivenwechseln sind für das Aufbrechen von Pfadabhängigkeiten bzw. ganz konkretes Verändern von Handlungsweisen aber auch Innovationen besonders wichtig, also neue Produkte, Technologien, aber eben auch angepasste Umgangsweisen mit erkannten Herausforderungen. Innovationen entstehen vielfach durch Zufälle; es gibt aber durchaus Möglichkeiten, das Entstehen und die Durchsetzung von Innovationen zu fördern oder zu begünstigen. Insbesondere soziale Innovationen erfolgen aus der Integration von Wissen und Fähigkeiten aus unterschiedlichen Bereichen oder – besser noch – durch die Koproduktion von Wissen. Dabei ist eine grosse Diversität von Wissen bzw. der beteiligten Personen innovationsfördernd, weil der Austausch so den Horizont erweitert (siehe bei Susanne Elsen), zur Explikation impliziten Wissens (siehe bei Michael Polanyi) zwingt und dadurch Gewohnheiten und Ansichten hinterfragt werden. Es braucht also den Kontakt und die Interaktion unter Menschen; und genau daher ist die lokale Ebene besonders geeignet, um Verhaltensänderungen auch unabhängig von Machtausübung oder gesetzlichen Regelungen anzustossen.

Was heisst das für die lokale Entwicklung? Was können Aktive vor Ort und die öffentliche Hand dazu beitragen?

Vor Ort gibt es eine Vielzahl von Projekten und Aktivitäten, die in der einen oder anderen Weise für eine nachhaltige Entwicklung eintreten und potenziell auf Veränderungen im Handeln setzen: Urban Gardening, Bike-to-Work, nachbarschaftliche Hilfe, Schwammstadt-Konzepte und Stadtbegrünung oder gesamtstädtische integrierte Entwicklungskonzepte, um nur einige zu nennen. Unklar ist oftmals, welche Definition von Nachhaltigkeit diesen Projekten und Aktivitäten zugrunde liegt oder auch nur, welche Aspekte der Nachhaltigkeit im Vordergrund stehen und wie weit über den Tellerrand der jeweils eigenen Idee geschaut wird. Gemeinsam ist allen Projekten und Aktivitäten: Sie funktionieren nur oder können nur Wirkung entfalten, wenn viele mitmachen. Wie der Beitrag von Felix Girke schon festhält, funktioniert das nicht oder nur sehr bedingt mit nudging; imagineering scheint der bessere Weg, über die Integration des Know-hows Vieler (gemeinsame) Ideen zu entwickeln, die planetaren Grenzen zu berücksichtigen und damit Veränderungen herbeizuführen.

Dies stellt jedoch die Aktiven bzw. Initiator*innen von Projekten vor erhebliche Herausforderungen. Sie engagieren sich für ein Projekt oder ein Thema, sind Feuer und Flamme, und müssen andere überzeugen mitzumachen, sich mit Wissen, Können, Zeit und Geld einzubringen und damit die Ressourcen für das Projekt und seine Wirkung in der Gesellschaft insgesamt zu erweitern. Das heisst, letztlich ist die nachhaltige Entwicklung eine Frage der Partizipation im Sinne von Teilnahme, aber insbesondere auch von Teilhabe an Projekten und Entwicklungen. Für wirkliche Partizipation reichen jedoch weder die gute Idee oder die Dringlichkeit des Projekts noch die Methoden. Partizipation ist überwiegend eine Frage der Haltung, vor allem bei den Verantwortlichen und Initiator*innen. Denn Menschen sind nur zu längerfristigem Engagement bereit, wenn sie sich in ihrem Engagement als wirksam erleben. Dies bedeutet eben, dass sie etwas bewegen können müssen, dass es über das reine Mitmachen bzw. die Umsetzung eines fertigen Projekts hinausgehen muss.

Strassburger und Rieger sehen es deshalb nicht nur als bedeutsam an, verschiedene Stufen der Partizipation – die die Intensität bzw. die Wirksamkeit der Partizipation auf das Projektergebnis abbilden – zu unterscheiden, sondern zeigen zudem zwei Seiten bzw. zwei unterschiedliche Beteiligten- oder Interessengruppen innerhalb eines partizipativen Projekts auf: Nämlich eine Seite, die Partizipation anbietet, wünscht oder einfordert, und eine Seite, die bereits am Projekt partizipiert oder z.B. in Form von Protest Beteiligung einfordert. Mit dieser Vorstellung wird deutlich, dass umfassende Partizipation höchst voraussetzungsvoll ist, wenn beide Seiten Einfluss auf das Ergebnis des Projekts haben sollen: Sie braucht Offenheit, Bereitschaft zur Auseinandersetzung um Themen und mit Menschen und ihren Erfahrungen und Interessen auf Augenhöhe, aber auch Vertrauen in die Kooperationsbereitschaft der jeweils anderen Seite. Zum Aufbau dieses Vertrauens ist zu Beginn eine Festlegung bzw. Aushandlung der Rahmenbedingungen erforderlich – was genau steht eigentlich zur Debatte, was ist schon entschieden, welche Ressourcen gibt es für die Umsetzung etc. Innerhalb dieses Rahmens sollte dann der Diskurs über die Ziele bzw. die beabsichtigte Wirkung des Projekts stattfinden, um darauf aufbauend gemeinsam nach möglichen Wegen der Zielerreichung zu suchen.

Kommunikationskultur und «absichtsloser Austausch»

Vielfach sind Projektideen jedoch schon sehr spezifisch oder so weit fortgeschritten, dass grundlegende Diskussionen über Ziele und mögliche Wege von den Initiator*innen als nicht mehr nötig oder gar schädlich für das Projekt angesehen werden. In diesen Fällen ist dann eher eine Mitarbeit bei der Umsetzung des Projekts gefragt, wie beispielsweise die Mithilfe bei der Organisation von Veranstaltungen oder das Aushelfen an Marktständen. Für derartige Aufgaben müssen Anreize geschaffen werden, denn nachhaltiges Engagement wird damit nur sehr bedingt ausgelöst bzw. abgeholt. Bei jeder neuen Aufgabe müssen aufs Neue Freiwillige gesucht werden, denn anhaltendes Engagement oder gar nachhaltige Verhaltensänderung sind durch nudging kaum zu erreichen. Umso wichtiger erscheint es, vor Ort eine Kommunikationskultur aufzubauen, die den offenen Austausch und die gemeinsame Ideenentwicklung fördert. Dafür können Städte und Gemeinden zentrale Grundlagen legen, indem sie einerseits die Partizipation an Planungs- und Entwicklungsverfahren ernst nehmen und offensivbetreiben und indem sie andererseits einen Rahmen schaffen, der den «absichtslosen» Austausch fördert. Dafür bieten sich Veranstaltungen in unterschiedlichen Formaten an; es können regelmässige Stammtische sein, Ausstellungen, Feste, Stadtspaziergänge oder Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen und vieles mehr. Als Themen bieten sich abstrakte Fragen genauso an (Wie soll unsere Gemeinde in 20 Jahren aussehen?) wie ganz konkrete Anlässe (Wie gehen wir mit einem Nutzungskonflikt im öffentlichen Raum um?). Wichtig ist, dass durch Regelmässigkeit und Offenheit die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Stadt- und Gemeindeentwicklung und zum Fördern von Engagement signalisiert wird. Wesentlich scheint zudem eine verlässliche Stelle, an der alle Fäden zusammenlaufen, an die sich Organisationen, Unternehmen und Bevölkerung mit Anliegen, Ideen und Unterstützungsbedarf wenden können und die Kontakt herstellen kann zwischen Projekten mit Beteiligungsbedarf und Engagement-Interessierten. Dies braucht Ressourcen und Qualifikationen, die vor allem in kleineren Städten und Gemeinden innerhalb der Verwaltung bisher kaum vorhanden sind. Zudem fehlt es nach unserer Erfahrung aus verschiedenen Projektenbei politisch Verantwortlichen an der Einsicht in die Notwendigkeit der Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements durch die öffentliche Hand; dies wird zumeist (noch) der privaten Sphäre zugeordnet.

In diesem Rahmen können Hochschulen eine wichtige Rolle einnehmen, indem sie nicht nur zu wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskursen beitragen, sondern beispielweise durch studentische und möglichst interdisziplinäre Projekte den unvoreingenommenen Blick von aussen auf lokale Entwicklungen richten und mit kreativen Methoden Lösungsansätze oder zumindest Visionen formulieren, die auf aktuellen wissenschaftlichen Grundlagen den Austausch vor Ort in lokalen Zusammenhängen anregen.

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Quellen:

Beyer, J. 2006. Pfadabhängigkeit: Über institutionelle Kontinuität, anfällige Stabilität und fundamentalen Wandel. Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln: Bd.56. Campus-Verlag.

Elsen, S. Soziale Innovation,ökosoziale Ökonomien und Community Development. In: Elsen, S. und Lorenz, W.2014. Soziale Innovation, Partizipation und die Entwicklung der Gesellschaft. BozenBolzano University Press.

Polanyi, M. 2016. Implizites Wissen(2. Aufl.). Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft: Bd. 543.

Straßburger, G. und Rieger, J.2014. Partizipation kompakt. Für Studium, Lehre und Praxis sozialer Berufe. Weinheim: Beltz Juventa.

Bildnachweis: Hannes Thalmann

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