Was mache ich da eigentlich? Dieser Gedanke ging mir in den vergangenen Wochen oft durch den Kopf, während ich in den alten Fabrikhallen der Firma Schöller in Hard am Bodensee stand. Hier soll also ein Ort mit guter Atmosphäre und echter Gastlichkeit entstehen, an dem sich Menschen aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft den großen Herausforderungen unserer Zeit stellen und echte Lösungen für die Vierländerregion Bodensee erarbeiten? Bei 10 Grad Raumtemperatur, umgeben von Staub und Dreck aus Jahrzehnten Textilgeschichte in Vorarlberg, wirkt dieses Vorhaben doch sehr wagemutig … Und, zugegeben, es erfordert eine ausgeprägte Vorstellungskraft, um sich auszumalen, wie das alles am Ende aussehen könnte.
Aber von vorn: Wie komme ich überhaupt in diese Hallen in Hard am Bodensee? Alles begann 2019, als ich mir als Geschäftsführer der Destination Bodensee-Vorarlberg Tourismus die Frage stellte, warum Google und Facebook alles über uns wissen, ich aber keine Ahnung habe, was unsere Gäste antreibt, am schönen Bodensee Urlaub zu machen. Da müssen Daten her – und bitte schön visualisiert in einem schnittigen Dashboard. Endlich meine eigene Kommandozentrale!
Doch schon in den ersten Gesprächen mit wirklichen „Experten“ wurde mir schnell klar, dass ich gar nicht die Legitimation habe, irgendjemandem ein Kommando zu geben. Geschweige denn, eine Entscheidung zu treffen, die wirklich dringende Fragen wie Mobilitätslösungen oder die Wirtschaftlichkeit unserer Branche beeinflusst. Und wenn ich das nicht kann, brauche ich eigentlich auch keine Daten … Mmmhhh.
Gut, dass dann Corona kam. Da hatte ich wieder andere Probleme, die es schnell zu lösen galt. 2021, mit dem Abflauen der Pandemie-Wellen, wachsender Immunität und der endlich erfolgten Öffnung unserer Landesgrenzen (erst da wurde mir bewusst, wie sehr ich die Vierländerregion Bodensee schätze – aber das ist ein Thema für einen anderen Blogbeitrag), nahm ich den Gedanken von Daten als Grundlage für bessere Entscheidungen wieder auf.
Mit einem Büro, spezialisiert auf Service Design – den Damen und Herren von estuar aus Dornbirn – reflektierte ich mein Anliegen nochmals. Sie waren begeistert von der Idee, Daten als Grundlage für kollaborative Diskussionen herzunehmen, um die Emotionalität in den Themen wieder herauszunehmen, betonten jedoch, dass dies im Dialog mit Menschen aus unterschiedlichen Perspektiven geschehen sollte – und dafür bräuchte es geeignete Orte, sprich Räume. Wir müssen die Thematik also auf drei Ebenen angehen: Raum, Vermittlung und Daten.
Ganz service-design-mäßig machten wir uns an den ersten „Datenraum“ aus Pappe und testeten ihn mit verschiedenen Personen. Die Idee kam gut an – nicht im Sinne bloßer Datenvisualisierung, sondern vielmehr als ein Ort, an dem Menschen wieder lernen, mit Daten umzugehen, sie zu lesen, darüber zu diskutieren und daraus Entscheidungsoptionen abzuleiten.
Es konnte also in die Entwicklung eines zweiten Prototyps gehen. Diesmal mit einem physischen Raum-in-Raum-Konzept, das wir an verschiedenen Orten für unterschiedliche Fragestellungen einsetzen konnten. Der Ort durfte jedoch nicht beliebig sein. Er musste eine gute Gesprächsatmosphäre schaffen, sich gut anfühlen und dazu verleiten, wirklich Zeit dort verbringen zu wollen. Schließlich gibt es schon zu viele seelenlose Räume, in denen zentrale Probleme unseres Zusammenlebens besprochen werden sollen. Alles Aspekte, die das Architekturbüro Studio SAAL aus Feldkirch in die Überlegungen einfließen ließ. Mit Baugerüstteilen, schwebenden Stoffbahnen und bespielbaren Holzpanelen entstand ein modulares Konzept.
Und schließlich brauchten wir auch eine konkrete Fragestellung, um zu wissen, welche Daten wir überhaupt benötigen. Die zentrale Frage, die wir in Zusammenarbeit mit der Österreich Werbung angingen, lautete: Wie hat sich das Gästeverhalten in der Destination Bodensee-Vorarlberg durch die Corona-Pandemie verändert? Dazu luden wir über 135 Personen aus 45 verschiedenen Branchen und allen vier Ländern der Bodenseeregion in den data:room ein (endlich hatte der Raum einen Namen!), um den Prozess der datenbasierten Entscheidungsfindung zu starten.
Der Test im Februar 2022 im alten designforum in Dornbirn war so erfolgreich, dass wir die Erkenntnisse vertiefen wollten. Doch schnell wurde klar: Wir hatten die „Daten-Büchse der Pandora“ geöffnet. Als Tourismusdestination waren wir dieser Aufgabe jedoch kaum gewachsen – vor allem wegen fehlender Ressourcen. Zudem erkannten wir, dass nicht die Daten das eigentliche Problem waren, sondern die Art und Weise, wie wir den Dialog und die Vermittlung über die jeweiligen Problemstellungen gestalten. Der Prozess musste ganzheitlich gedacht werden.
Im Mittelpunkt steht das Erlernen einer „Data Literacy“ – also des Verständnisses von Daten – und einer Dialogkultur, die den Austausch zwischen Menschen fördert, um gemeinsam Entscheidungsoptionen zu entwickeln und konkrete Lösungen zu erarbeiten. Es braucht gut kuratierte Vermittlungs- und Gesprächsformate, die es den handelnden Personen ermöglichen, über eine lebenswerte Zukunft zu sprechen.
Das Jahr 2023 stand dann ganz im Zeichen der Bewusstseinsbildung dieses Prozesses: Wie können wir Daten und Fakten nutzen, um besser zu verstehen, klüger zu entscheiden und schließlich effektiver zu handeln? Prof. Dr. Viktor Mayer-Schönberger brachte es bei seinem Besuch im data:room im Oldtimermuseum in Hard am Bodensee auf den Punkt: „Vorarlberg ist klein, aber das ist groß.“ Wir betreten mit diesem Prozess jedoch auch international unerforschtes Terrain. Keine Best Practices, keine Abkürzungen – nur Trial and Error. Schritt für Schritt und mit der Überzeugung, dass wir die lebenswerte Zukunft aus unseren Träumen auch verwirklichen können.
Im Oktober 2024 hieß es dann für mich persönlich: All-in. Ich kaufte den physischen data:room (das Raum-in-Raum-Konzept) sowie die Marke von meinem früheren Arbeitgeber und Initiator des Prozesses, der Bodensee-Vorarlberg Tourismus GmbH, heraus, um ihn als integralen Bestandteil meiner Beratungsleistungen bei occursus weiterzuführen. Wie es der Zufall will, wurden durch den Wegzug der Textilfirma Schöller aus der Kammgarnfabrik in Hard am Bodensee alte Fabrikhallen mit viel Charme frei. Genau der richtige Ort also, um diese Vision zu verwirklichen und die geschichtsträchtigen Hallen nicht nur mit Leben, sondern auch mit Sinn und Zweck zu füllen.
Und so stehe ich nun mit einem Haufen Gerüstbauelementen und zwei großen Paletten Holzpanelen in den alten Fabrikhallen in Hard. Motiviert durch den Schriftsteller Wolf Lotter, der einem seinen Bücher den so treffend Namen „Strengt euch an!“ gegeben hat. Es ist ein beschwerlicher Weg, aber einer, der sich lohnt – und meines Erachtens alternativlos ist. Denn wir brauchen wieder Räume, in denen sich Menschen mit Freude begegnen, um echte Lösungen zu erarbeiten. Schritt für Schritt entsteht hier ein Ort, an dem jetzt innovative Ideen gesponnen werden, anstelle von Garn. Ein Ort, an dem Menschen aus der Vierländerregion Bodensee gerne zusammenkommen, um auf Augenhöhe an den dringendsten Herausforderungen unserer Zeit zu arbeiten. Wenn ich nur einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, dann lohnt sich jede Anstrengung. Wir sehen uns im data:room in Hard am Bodensee.
Der gebürtige Schweizer Urs Treuthardt, wohnhaft in Bregenz, bietet mit seiner Agentur occursus umfassende Dienstleistungen in den Bereichen Projektentwicklung, Begegnungskultur und datenbasierte Entscheidungsfindung an. Mit über 20 Jahren Erfahrung in der Tourismusbranche, insbesondere im Tagungs- und Kongressbereich, unterstützt occursus Auftraggeber bei der Entwicklung nachhaltiger und robuster Geschäftsmodelle. Sein Fokus liegt dabei primär auf der Vierländerregion Bodensee.
Bildnachweise: Büro Magma, Bodensee-Vorarlberg Tourismus GmbH, Convention Partner Vorarlberg, Urs Treuthardt