February 6, 2024

Nachhaltigkeit als Wille und Vorstellung

Felix Girke
Manager Fonds für Innovation und Transfer, Programmleitung Talente & New Work und Nachhaltige Bodenseeregion

Nachhaltigkeit ist in aller Munde, und sicher auch zu Recht: Ressourcen werden oft ineffizient genutzt, soziale und natürliche Umwelt leiden, und alte Verhaltensweisen auf individueller wie auch auf kollektiver, institutioneller und unternehmerischer Ebene sind schwer abzulegen.

Doch Nachhaltigkeit ist und bleibt ein Kernelement von Transformation - kaum eine wünschenswerte Zukunftsvorstellung basiert nicht grundsätzlich auf einer Vermeidung von Müll, von Ressourcenverschwendung und von Umweltzerstörung. Der Anspruch ist umfassend: Wir sind alle individuell angesprochen, darüber hinaus ist die "Wissenschaft" ebenso wie die "Praxis" gefordert, im Zusammenspiel mit Politik und Zivilgesellschaft, aus der grundsätzlichen Forderung nach mehr Nachhaltigkeit konkrete Konzepte und Produkte zum Einsatz zu bringen.

Doch während der Forderung nach Nachhaltigkeit ja kaum vernünftig widersprochen werden kann, scheint es schwierig, Nachhaltigkeit auf eine – nun – nachhaltige Weise auch umzusetzen, eine Weise, die mehrheitsfähig und attraktiv ist. Darum sollte man vielleicht nicht nur über Konzepte und Produkte nachdenken, sondern auch über Haltungen, Zielsetzungen und Kommunikationsweisen.

Das Reden über Nachhaltigkeit

Während es also besonders herausfordernd ist, Nachhaltigkeit überzeugend umzusetzen, ist es zunächst sehr einfach, sie sich auf die Fahnen zu schreiben oder ihre generelle Bedeutsamkeit wieder und wieder zu unterstreichen. Ebenso wie bei Kunstwerken leidet allerdings die Effektivität von Begriffen ggf. unter ihrer (beliebigen) Reproduzierbarkeit. Entsprechend bleibt im Genre der "Nachhaltigkeitsessays" das Versprechen von Nachhaltigkeit oft vage, unkonkret, im ungünstigen Fall schon fast skurril, oder wird zu seinem eigenen Klischee: Ist Home Office nachhaltiger als Büroarbeit? (Kommt darauf an, welche Faktoren man einrechnet.) Muss man Glasmüll nach Farbe trennen? (In Deutschland ja, in Frankreich nein.) Wie oft muss man Mehrweg-Jutetaschen zum Einkaufen verwenden, bis sie tatsächlich nachhaltiger sind als Einweg-Plastikbeutel? (Bitte selber googlen.) (Nein, halt: Bitte Ecosia verwenden.)

Erwähnungen oder gar Auflistungen der SDGs können liturgischen Charakter annehmen, ebenso wie die gängigen Verweise auf die "ursprüngliche" forstwissenschaftliche Herkunft des Begriffs oder ähnliche Versatzstücke. Die normative Kraft der Nachhaltigkeitsaufrufe kann sich aber durch zu kleinteilige oder zu routinierte Vorgaben und Weltverbesserungsvorschläge ohne sichtbare Wirkung ins Gegenteil verkehren und Langeweile, Zynismus oder Entfremdung erzeugen.

Diese Diagnose kann auch als Appellverstanden werden, die "Frames", die Denkrahmen, die man selberverwendet und denen man in der Welt begegnet, zu überdenken: Ist Nachhaltigkeit alternativlos? Ist Nachhaltigkeit unweigerlich mit Verzicht verbunden? Ist Nachhaltigkeit eine moralische Pflicht? Eine notwendige Reaktion auf multiple Krisen? Eine matte Antwort auf kollektives Trauma?

Diese Frames haben ihre Berechtigung, aber sind sie attraktiv? Diese Frage mag leichtfertig erscheinen, hat aber gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Relevanz: Nehmen die Frames jemanden mit, der nicht ohnehin schon überzeugt und "dabei" ist? Eine Alternative zu diesen Setzungen wäre, Nachhaltigkeit in erster Linie als einen mitreißenden Aufruf zu Kreativität zu präsentieren, der die Gestaltungsfähigkeit und –freudigkeit bei uns allen wecken soll.

Denken in Alternativen

Eine Möglichkeit, potentielle "Nachhaltigkeitsmüdigkeit" aufzufangen, liegt in der Entwicklung von imaginaries, anschaulich formulierten und bewusst attraktiv gestalteten Vorstellungen der nachhaltigen Zukunft. Grundlegend für diese kreativen Entwürfe ist stets das Verständnis, dass Nachhaltigkeit immer auch gesellschaftlich und sozial, nie lediglich technisch etabliert werden kann. Gute, mutige imaginaries extrapolieren dabei nicht einfach das Gegebene, sondern wagen es, Alternativen zu entwerfen, zu denen der Weg noch nicht vorgegeben ist – aber gemeinsam gefunden werden kann. Solche Entwürfe gemeinsamer Zielsetzungen hätten nicht mehr das Ziel, eine breite Öffentlichkeit für die Bedeutung von Nachhaltigkeit an sich zu sensibilisieren – denn das ist sie vermutlich mittlerweile – sondern könnten durch die Zurückweisung von TINA-Prinzip und ähnlich politisch leeren (Ent-)Haltungen einen Impuls setzen, sich der Zukunft zu öffnen und selbstwirksam aktiv zu werden. Vielleicht braucht es dann sogar das Wort "Nachhaltigkeit" nicht mehr.

Imagineering, not Nudging

Die Wortschöpfung des Imagineering, die image und engineering verbindet (siehe Metelmann 2022 zu dieser Begriffsgeschichte), ist passend: Die Herausforderung besteht darin, das gemeinsame Erreichen von Zielsetzungen mit all ihren technischen, politischen und/oder gesellschaftlichen Aspekten vorstellbar zu machen. Zugleich deutet das Konzept aber auch die Gefahr einer solchen Herangehensweise an: zu instrumental, zu taktisch gedacht nähert sich das offen einladende imagineering dem manipulativen und undemokratischen nudging, dem Versuch, gewünschte Verhaltensänderungen durch wiederholtes "Anschubsen" zu erreichen, ohne direkten Zwang ausüben zu müssen. Doch die nachhaltige Zukunft, die wir entwerfen wollen, muss ihre Überzeugungskraft in sich tragen, auch ohne solche offenbaren Lenkungsversuche, die ihrerseits oft Reaktanz auslösen. Könnte Nachhaltigkeit als Einladung statt als Nötigung ein effektiverer Frame sein?

Welche Schritte kann man nun – sagen wir, als Wissenschaftsorganisation in der Bodenseeregion - beschreiten, um ein mitreißendes Missionsdenken (aber eben nicht missionarisches Denken) mit der Förderung von Nachhaltigkeitsforschung und –transfer zu verbinden und dabei immer noch aus den pauschalen Nachhaltigkeitsaufrufen herauszustechen? Neben den großen, die ganze Region transformierenden Kollaborationen, die im Rahmen unserer Labs vorangetrieben werden, sind es vermutlich tatsächlich die kompakten, guten, greifbaren und umsetzbaren Ideen, die hier Erfolg zeitigen können: Jedes Mal, wenn wir uns im Imagineering üben,…

um eine positive Transformation zu entwerfen,
und dabei demonstrieren können, dass Nachhaltigkeit unsere Region für alle lebenswerter macht,
und dass die Bodenseeregion tatsächlich auch transformierbar ist,
und dass viele von uns aus eigener Kraft einen Beitrag zu dieser Transformation leisten können,

dann sind wir wieder einen Schritt weiter.

Und der nächste Schritt ist bekanntlich immer der wichtigste.

Felix Girke leitet das Programm Nachhaltige Bodenseeregion und hat die Ausschreibung "Möglichkeitsraum Bodensee" konzipiert.

Dieser Beitrag ist Teil einer Essay-Reihe. Zum vorherigen Beitrag gelangen Sie hier: Aus den Fängen der Pfadabhängigkeit

Leseempfehlungen

Jasanoff, S., and S.-H. Kim, ed. (2015). Dreamscapes of Modernity: Sociotechnical Imaginaries and the Fabrication of Power. Chicago: University of Chicago Press.

Mazzucato, Mariana (2021). Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft. Campus.

Metelmann, Jörg (2022). Imagineering & Co. Ein Modelltransformativer Praktiken. Alternativen: Zukunftswelten imaginieren und gestalten (Bulletin der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften 28,2), 52–56. DOI: 10.5281/zenodo.6982934

Rahm, L. (2023). Educational imaginaries: governance at the intersection of technology and education, Journal of Education Policy, 38:1,46-68, DOI: 10.1080/02680939.2021.1970233

Taylor, Charles (2004). Modern social imaginaries. Duke UP.

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