Der Begriff vom "Fortschritt" scheint den öffentlichen Debatten weitgehend abhandengekommen zu sein – wir sind stattdessen in transformativen Zeiten, und das ist etwas Ganz Anderes.
"Fortschritt“, dieses lineare Heilsversprechen der Moderne, zählt wenig angesichts von VUCA-Welten, Polykrisen, Zeitenwenden, Disruption und eben Transformation: Die Annahme, dass zumindest vieles – wenn schon nicht alles – doch Stück um Stück, inkrementell aber stetig, besser werden könnte, scheint uns nicht mehr ausreichend. Wandel muss jetzt qualitativ sein, nicht mehr nur quantitativ. Nicht: Alles wird besser, sondern alles wird anders.
Was bedeutet es aber, wenn Transformation und Fortschritt zwei letztlich inkompatible Erwartungshaltungen sind, die letztlich inkompatible Handlungsweisen einfordern?
Bei aller gerechten Kritik an der Moderne und ihrem Fortschrittsversprechen, das auf globaler Ungleichheit und entfesselter Ressourcenausbeutung usw. basierte, hatte "Fortschritt" zumindest einen klaren diskursiven Vorteil im Möglichkeitsraum: Gelegentlich war er messbar, spürbar, und greifbar, und sein Versprechen blieb damit plausibel, solange man sich nicht allzu tief in den größeren Kontext hineingrub. "Wo gestern noch Trabbies stanken / fährt man heute BMW und Benz", wie der Lyriker Funny van Dannen einst sang. Ob die große aktuelle Disruption der LLMs und ihrer Integration in unseren Lebensalltag (sowie der wilden Jagd nach der AGI oder gar ASI) diesem Maßstab gerecht wird oder am Ende eher den Effekt hat, den Arbeitsmarkt global weiter zu prekarisieren und den Wert menschlicher Kreativität in Frage zu stellen, und damit letztlich eine Disruption ohne klare Verbesserungsperspektive darstellt, wird sich vermutlich recht zeitnah herausstellen – Cyber-Utopia, apokalyptischer Akzelerationismus oder Butlerian Jihad (Thou shalt not make a machine in the likeness of a human mind.) scheinen durchaus Pfade zu sein, die uns in einer Zukunft blühen könnten.
Be that as it may: Wir mögen uns nicht auf eine Definition von "Fortschritt" einigen können, aber viele Leute können (oder konnten) auf Elemente ihrer Lebenswelt zeigen und sagen, "so, das hier zeugt vom Fortschritt". Transformation bietet dies so erstmal nicht. Transformation ist ein permanenter Imperativ, nach dem wir konsequent uns und alles andere ändern müssen – und der zugleich in sich ein eher vages Versprechen trägt. Wann wir "da" wären, wann denn dann (falls überhaupt) "genug" Transformation wäre, bleibt in der Regel unausgesprochen. Aber damit sind wir mal wieder beim Thema von Pfaden und ihren Abhängigkeiten, bei dem ich zur Science Fiction-Literatur greifen möchte.
Massiv ver-meme-d ist heute bereits das sogenannte Trolley Problem, eine popkulturelle Variante des ethischen Dilemmas der Abwägung: Lasse ich den außer Kontrolle geratenen Waggon weiter rollen und in die Seniorengruppe auf dem Zebrastreifen rauschen, oder schalte ich die Weiche, damit "nur" die eine Wissenschaftlerin auf dem Gehweg erfasst wird (die aber vielleicht an einer revolutionären Weltverbesserung arbeitet)? Insbesondere für das autonome Fahren wirft dies weitreichende praktische Fragen auf, aber man kann das Trolley Problem auch auf gesellschaftliche Entscheidungen anwenden: Wenn wir uns der Transformation widmen, statt weiter Fortschritt zu verfolgen, überrollen wir dann unsere jetzige Welt, um eine andere, zu seiende Welt zu retten?
Diese Frage stellt sich den Protagonisten von Ada Palmers vierbändiger Terra Ignota-Serie eher unverhofft. Im Jahr 2454 ist Gender als soziale Praxis verpönt, Mobilität durch einen Schwarm hyperschneller Flugtaxis kein Problem mehr, Mangel an sich ist auch überwunden, jeder Mensch arbeitet nur freiwillig mehr als 20 Stunden pro Woche, und Nationalstaaten sind durch weltumspannende Zusammenschlüsse ersetzt, denen Menschen freiwillig entsprechend ihrer philosophischer Einstellung angehören. Doch neben krankhaftem individuellen Ehrgeiz, zwei übernatürlichen Interventionen und eher soziopolitischen demographischen Herausforderungen ist es am Ende die Entscheidung zwischen zwei Zweigen des Baums der Geschichte, welche diese in vieler Hinsicht so beneidenswerte Welt in einen globalen Krieg stürzt:
(SPOILER-WARNUNG)
Sollten die Ressourcen der Erde nach innen gerichtet werden, um das volle Potential jedes einzelnen Gehirns – verstanden als eigene, einmalige Welt – zu entfalten, oder sollen sie auf die Erschließung des Weltraums ausgerichtet werden, so dass selbst bei einer Zerstörung der Erde die Menschheit weiterlebt? Dieser zweite Zweig wird im Buch als der long pain branch bezeichnet, da selbst denen, die fokussiert darauf hinarbeiten, vollkommen klar ist, dass sie persönlich die Olympischen Spiele auf dem Mars nicht mehr erleben werden. Aber manche sind bereit, über Jahrhunderte Ressourcen von der Verbesserung aktueller Lebensumstände abzuziehen und organisches Material zum Mars zu schicken, um das Terraforming dort voranzubringen – so dass eines Tages der Mars zum Sprungbrett zu den Sternen werden kann.
Nun. In Zeiten von Elon Musks oft verspotteten Marsplänen ist die Behandlung dieses Themas in der Buchreihe instruktiv: Zahlreiche Akteure wollen aus durchaus guten Gründen zum Mars, und dies wirft eine Frage für uns auf, die wir noch zwischen Fortschritt und Transformation hadern: Sind wir bereit, diese Welt zu zerstören, um eine bessere zu retten?, wie in der Terra Ignota-Reihe oft gefragt wird. Die Autorin Ada Palmer, die gerade ein neues Buch über die Renaissance auf den Markt bringt, führt diese Idee zurück zu einem oft übersehenen Aspekt der Aufklärung, konkret bei Diderot:
"Diderot in particular, you see in his writings like Jacques The Fatalist and Rameau’s Nephew was aware of the fact that what they were really doing was destroying the society they lived in and they didn’t know what the attributes of the next society that developed would be. It wouldn’t share their values, it would be a society they themselves wouldn’t be comfortable in. But it would be more rational, and Diderot then had faith that a rational world would be better, even if it would not be a place comfortable for him."
Diderot war also zuversichtlich, dass die Vernunft (und das Vertrauen in die Vernunft) eine Welt hervorbringen würde, die besser wäre als seine, auch wenn es ihn persönlich nicht bereichern würde; und damit haben wir plötzlich das Gegenteil des oben skizzierten Fortschrittsglaubens, dass alles inkrementell-aber-stetig besser wird. Aber, man beachte die Wortwahl: faith – um Glaube geht es also weiterhin. Weiter mit Ada Palmer:
"That is a very sophisticated relationship to have with progress. I think we often see, many of the tensions we’re having right now around liberalism and progress have to do with people enthusiastically supporting progress, thinking yes, I and my family and everyone will be better off, and then it advances a bit, and they’re like, wait a minute, this is changing things more than I expected. I am no longer comfortable in the new order that’s being created by this and now I feel like this is wrong. And they don’t recognise this is the nature of progress, and instead try to turn it into a progress has gone wrong because of something, we direct blame somewhere."
Vielleicht fällt uns heute einfach schwerer als Diderot und seinen Weggefährten, dieses Vertrauen aufzubringen, dass die Welt der Transformation, für die wir unsere vertraute Welt letztlich opfern sollen, tatsächlich besser werden wird – dass sie, utilitaristisch gesprochen, mehr Glück für eine größere Menge an Menschen bieten wird. Die Philosophin und Ökonomin Silja Graupe von der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung fordert aber genau diese Art von Leidensbereitschaft ein:
"Wir müssen ja unsere ganze Gesellschaft, wie wir wirtschaften, transformieren, also komplett ändern, aber da kann ich mir vorstellen, das verbinden halt viele mit Schmerzen. Also das wird dann wehtun. Wir können dann nicht mehr so leben und wirtschaften, wie wir vorher leben. Das willst Du doch unserer Gesellschaft nicht antun, das willst Du doch unserer Gesellschaft nicht antun. Da würden wir uns ja Schmerzen hinzufügen. Das wollen wir ja nicht. Dann probieren wir es einfach weiter. Vielleicht geht es ja doch gut." (Jung&Naiv Podcast Folge 709, 30:47-31:18)
Auch das Wheel of Transformation des The Future Project präsentiert Erfahrungen wie Kontrollverlust, Verunsicherung und Widerstand als unvermeidliche Phasen auf dem Weg zu einer wahren Transformationskompetenz, sieht aber als gegeben an, dass diese Schritt für Schritt überwunden werden können.
Doch dies scheint der Kern der Herausforderung der Transformation unter Bedingungen von Demokratie zu sein: Kann man, soll man, muss man Menschen überzeugen (und wenn ja, wie?), dass sie sich aktiv für diesen Schmerz entscheiden? Dass sie der "Vernunft" der Transformation vertrauen? Wie Diderot "faith" haben? Den Trolley hierhin schicken statt dahin? Ihre Welt zerstören, um eine bessere zu retten? Und welche wird das sein? Und was ist mit dem Mars? Auf Ada Palmers SciFi-Erde entbrennt aus diesen Fragen ein Krieg, an dessen Ende ein nicht völlig eingelöster Kompromiss steht. Angesichts oft verfahrener Debatten und verhärteter Fronten auf unserer Erde scheint es mir wohl angelegte Zeit, sich über Science-Fiction-Lektüre zumindest den Horizont zu öffnen, das eigene Denken zu erweitern und in diesem Fall ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass es Transformationsgegnern und Transformationsbefürwortern am Ende vermutlich beiden um eine Verringerung von Leid geht – nur wer am Ende Recht gehabt haben wird, steht in den Sternen.
Ada Palmer: Terra Ignota-Reihe (4 Bände)
Dénis Diderot: Jacques der Fatalist und sein Herr und Rameaus Neffe
Blog-Posts zu Terra Ignota:
https://schicksalgemeinschaft.wordpress.com/2022/02/15/seven-surrenders-ada-palmer-2017/
https://fantasy-faction.com/2017/ada-palmer-interview-seven-surrenders
Bildnachweis: Angela Lamprecht