June 17, 2024

Nachhaltigkeit, Co-Creation und die kunstgetriebene Umbaukultur

Sozial versus nachhaltig?

Wenn es um nachhaltiges Bauen rund um den Bodensee geht, kann das Land Vorarlberg zweifellos als Vorreiter gelten. Dort hat sich in den letzten drei Jahrzehnten eine Baukultur entwickelt, die die Architektursprache der Moderne mit heimischen Handwerkstraditionen aus nachwachsenden Materialien und zeitgenössischen Wohn- und Arbeitsformen verbindet. Schule haben die Vorarlberger vor allem durch ihre Expertise in der Lehm- und Holzbauweise gemacht. Zudem wurde mit dem Vorarlberger Architektur Institut (vai) ein beispielhafter eigener Fortbildungsverbund mit Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm gegründet und die Arbeit im landeseigenen Energieinstitut auf eine kreislauforientierte Bauwirtschaft ausgerichtet. Dennoch fehlt es auch in Vorarlberg an bezahlbarem Wohnraum.

Auf der deutschen Seite stehen die Baubranche und öffentliche Hand unter noch stärkerem Druck. Hier gilt es in Rekordzeit bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, denn in vielen Metropolregionen leben immer mehr Menschen in beengten Verhältnissen oder sind von Obdachlosigkeit bedroht. Das gilt auch für die ländliche Region rund um den Bodensee. Hier ist die Lage statistisch gesehen auf dem gleichen Niveau wie in Hamburg – auf 1000 Wohnungen kommen nur vier leerstehende1.

Da die Baubranche aber bekanntlich für 37 % der globalen CO₂-Emissionen verantwortlich ist2, ergibt sich hieraus ein schwer lösbares Dilemma: Der Forderung mehr und schneller zu bauen, stehen angesichts des Klimanotstands Slogans wie „Verbietet das Bauen!“ oder die Rede von der „Bau-Scham“ (Daniel Fuhrhop, Verbietet das Bauen! Streitschrift gegen Spekulation, Abriss und Flächenfraß, München 2015) gegenüber. Deshalb zeichnet sich auf Architekturbiennalen, Bauausstellungen und im theoretischen Diskurs immer deutlicher das Bemühen ab, hierauf mit neuen, alternativen, interdisziplinären Planungsansätzen zu reagieren. Die sogenannte „Bauwende“, von der vielerorts die Rede ist, muss mehr können als bauphysikalische Lösungen zu liefern. Das fordert etwa der deutsche Verbund „Architects 4 Future“. Die neue Baukultur müsse multidisziplinär sein, Bedarfe überdenken, Abrisse hinterfragen und mehr soziale Verantwortung übernehmen. „Refuse/Repair, Reduce, Re-use, Recycle“ sind die Stichworte, die hier schon länger kursieren und für die etwa das vai 2023 mit einer Ausstellung warb.

Wie aber nimmt eine solche Bauwende Fahrt auf und wie kommt sie aus einem reinen Ankündigungsmodus heraus? Offenbar ist ein erhebliches Umdenken notwendig, ein Denken in anderen Zeitkategorien, neuen sozialen Allianzen und Modi des generationenübergreifenden solidarischen Zusammenlebens, damit diese neuen Lebensformen attraktiv erscheinen und nicht wie ein restriktives Notfallprogramm daherkommen.

Poesie der Selbstermächtigung

Lernen lässt sich hier von kunstbezogenen Initiativen, die an die Recht-auf-Stadt-Bewegung und Ideen der Situationisten anschließen. Letztere postulierten schon Ende der 1950er Jahre, dass urbane Lebens- und Arbeitsräume vor allem von und durch ihre Nutzer:innen geschaffen werden. Die hiervon inspirierten jüngeren Initiativen, die mit künstlerischen Mitteln arbeiten, boostern daher vor allem durch einen performativen Ansatz des gemeinsamen Tuns den kollektiven Möglichkeitssinn und setzen eine Neu-Aneignung des vorhandenen Raums in Gang, um dort mit Formen eines selbstbestimmten Zusammenlebens zu experimentieren. Projekte wie jene von Atelier d'architecture autogérée, einer Plattform für selbstorganisierte Architektur in Frankreich, die die Selbstverwaltung ungenutzter städtischer Räume vorantreibt, hat 2008 unter dem Titel R-Urban städtische Brachflächen in Colombes, einem Vorort von Paris mit 84.000 Einwohner:innen, der kollektiven landwirtschaftliche Nutzung und dem gemeinsamen Gemüseanbau zugeführt. Auf dem Brach-Gelände wurden aus Recyclingmaterialien Werkstatträume mit Saatgutbibliothek, einem Gemüsemarkt für lokale landwirtschaftliche Produkte und einem kollektiven Café mit Kochstelle gebaut. Es sind vor allem die gemeinsamen Aktivitäten, die hier möglich werden, die das soziale Gewebe von Vorstädten verändern können, weil Migrant:innen, alte Hobbygärtner:innen, junge Umweltaktivist:innen und engagierte Stadtplaner:innen plötzlich ganz konkret zusammenarbeiten.

Für diesen Weg wirbt auch der Schweizer Intendant der Internationalen Bauausstellung in Stuttgart Andreas Hofer. Das Großprojekt, das 2027 offiziell eröffnet, nimmt sich vor, „aus unwirtlichen Gewerbegebieten, monofunktionalen Wohnsiedlungen und Einfamilienhausteppichen funktionierende Nachbarschaften mit einer lokalen Ökonomie für eine postfossile Moderne zu schaffen”3. Dabei verfolgt die IBA eine „Strategie der Inwertsetzung” und setzt auf “Ko-Kreation“ und eine „Demokratisierung der Baukultur“ (ebd.). Mit diesen Überlegungen wirbt die IBA für ein Denken, das sich schon länger gegen die herrische Star- und Image-Architektur der Moderne mit ihren Masterplänen stellt.

Viele der kunstbezogenen Projekte, die sich mit kreativer Quartiersentwicklung befassen, haben für solche sozialen Umbauprozesse schon vor beinahe 30 Jahren eigene Tool-Sets entwickelt. Sie setzen auf Atmosphären, die gemeinschaftsstiftende Emotionen erzeugen und die konsequent die Selbstermächtigung der Nutzer:innen fördern; denn soziale Nachhaltigkeit ist weder allein durch individuelle Bewusstseinsbildung noch durch staatliche Regulierung zu erreichen und auch nicht durch paternalistische halbherzige Partizipation. Sie ist darauf angewiesen, tatsächlich von den (potentiellen) Nutzer:innen gemacht zu werden, ihr lokales Wissen zum zentralen Ausgangspunkt zu nehmen und sie als die Expert:innen zu begreifen, deren Expertise es in Pläne und Projekte umzusetzen gilt.

Aus diesem Geist ist 2012 etwa das Grandhotel Cosmopolis in Augsburg entstanden. Hier haben sich Künstler:innen mit Bürger:innen und Geflüchteten zusammengetan und ein heruntergewirtschaftetes, leerstehendes Altenheim in ein Hotel mit angegliederter Unterkunft für Geflüchtete umgewandelt, mit Gemeinschaftsräumen und Kunstateliers.

In Berlin hat die 2013 gegründete Initiative Neue Nachbarschaft/Moabit, in der die Künstlerin Marina Naprushkina die treibende Kraft ist, mitten in der Pandemie gemeinsam mit Geflüchteten, Künstler:innen und Aktivist:innen ein von der Stadt wegen Unrentabilität aufgegebenes Strandbad am Tegelsee wieder in Betrieb genommen. Diese Beispiele zeigen, wie Bürgerinitiativen durch eine nicht-gewinnorientierte kreative Haltung zum Abriss freigegebene Objekte wieder in Wert setzen.

Für die Planung solcher Vorhaben hat das Projekt Park Fiction in Hamburg bereits Mitte der 1990er-Jahre die Methode der „kollektiven Wunschproduktion“ entwickelt und sie in verschiedenen Folgeprojekten wie Planbude und Fabric–Planung als Plattform weiter verfeinert. Bei dieser Methode kommt es darauf an, unter dem Motto „Die Wünsche werden die Wohnung verlassen und auf die Straße gehen“ offene spielerische Situationen zu stiften, die für ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen attraktiv und einladend sind. Daneben werden über einen Planungszeitraum hinweg psychogeographische Studien vorangetrieben, in denen die Anwohner:innen zu Mitautor:innen werden. Dieses Vorgehen entstand Mitte der 1990er Jahre aus einem Verbund aus Hausbesetzer:innen, Anwohner:innen, Aktivist:innen und Künstler:innen heraus, die sich, statt nur gegen ein Investitionsprojekt zu protestieren, zu einer Bürgerinitiative zusammenschlossen und eigene Pläne für die Nutzung des Grundstücks entwickelten. Mit Mitteln aus dem Kunstbudget der Hansestadt konnten sie einen performativ gestalteten Planungsprozess durchführen und schließlich die Ergebnisse umsetzen. Auf dem Weg dahin halfen Konzerte, Performances, öffentliche Filmscreenings, Picknicks, Workshops, Hearings und ein über Monate offener Planungscontainer, in dem Modellbauworkshops stattfanden, Fragebögen ausgefüllt wurden und vor allem hunderte Gespräche stattfanden, um ein Panorama der Wünsche zu entwickeln und dieses in sehr eigene Parkelemente zu übersetzen. So entstanden eine Palmeninsel mit künstlichen Palmen, eine Wiese in Form eines fliegenden Teppichs, eine in Pudelform geschnittene Buchsbaumhecke, mithin allesamt Elemente, die auch eine fiktive Note haben und die Atmosphäre im Quartier wesentlich veränderten und auch Personen, die sich nicht politisch interessieren, für die Gentrifizierungsprozesse und womöglich ihren eigenen Beitrag dazu zu sensibilisieren.

Weltweit finden sich mittlerweile nach ähnlichen Prinzipien arbeitende und untereinander gut vernetzte Initiativen wie das Plum Tree Creek Project in Taiwan, das eine verseuchte Flußlandschaft neu belebt, die GUDSKUL in Indonesien oder das kollaborative El Warcha Design Studio in Tunis, das von Geflüchteten und der Caritas betriebene Hotel Magdas in Wien von AllesWirdGut Architekten. In Wuppertal wurde unter dem Titel Utopiastadt, in Rückgriff auf Joseph Beuys‘ Begriff der sozialen Plastik, in einem leerstehenden Bahnhof ein Ort für ein neues Mobilitätsdenken eingerichtet. Hier gibt es eine Produktionsstätte für E-Lastenräder, ein Fahrradreparaturcafé, eine Carsharing-Station und andere „solidarische Infrastrukturen im großen Stil“.

Solche Projekte allein können nicht die drängende Wohnungsnot lösen, aber sie zeigen, wie das Umdenken durch das gemeinsame Bauen, durch Veranstaltungen und das kreative Community-Building angeregt werden kann und wie aus Initiativen größere Infrastrukturen entstehen.

Weiterführende Links:

1 https://www.merkur.de/politik/wohnungsnot-neubau-bau-leerstand-braukrise-baupreise-wohnkrise-zr-92921825.html

2 https://globalabc.org/sites/default/files/2021-10/GABC_Buildings-GSR-2021_BOOK.pdf

3 https://www.iba27.de/die-stadt-der-zukunft-ist-gebaut/

Foto: FABRIC - Planung als Plattform in Lörrach Brombach 2018, Bildnachweis: Karen van den Berg

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