Den Begriff des Fortschritts verdanken wir der Aufklärung und Immanuel Kant: Die Geschichte sei ein beständiger „Fortschritt vom Schlechten zum Besseren“, in der Technik, der Wissenschaft, dem Recht oder der Kultur. „Vorwärts – nicht rückwärts“ ist das Motto, erklärt uns Georg W.F. Hegel. Der Fortschritt hat sich zu so etwas wie einer Allzweckwaffe in Politik und Gesellschaft entwickelt: „Fortschrittskoalition“ nennt sich das Regierungsbündnis aus SPD, Grünen und FDP in Deutschland. Auf diesen (kleinsten) gemeinsamen Nenner konnten sich die drei Koalitionspartner einigen. Das liegt vermutlich auch daran, dass der Fortschritt bis dato durchwegs positiv besetzt war.
Das macht ihn mittlerweile ziemlich einzigartig. Andere Konzepte, die in solchen Lebenslagen gerne benutzt werden (Wachstum!), sind nicht mehr durchgängig so populär. Zugegeben, der Fortschritt hatte auch eine wechselhafte Karriere: Zu Zeiten der Weltkriege fiel er in sich zusammen. Aber seit 1945 und vor allem nach 1990 erlebte er in der westlichen Welt seine Blütezeit. Nachdem Francis Fukuyama das Ende der Geschichte einläutete, schienen alle Hindernisse für den Fortschritt aus dem Weg geräumt.
Der Fortschritt kennt kein Ende: Er ist immer in die Zukunft gerichtet. Das Heutige soll in ein erstrebenswertes Neues, in eine wie auch immer geformte Zukunft, gebracht – oder transformiert – werden. Deshalb ist der Fortschritt auch niemals abgeschlossen. Zumindest in der Theorie war das bis heute so.
Denn mittlerweile zweifeln viele Menschen daran, dass es ihnen in Zukunft bessergehen wird. Statt Fortschrittsoptimismus regiert die Verlustangst. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits drängt der ökonomische, technologische und kulturelle Wandel jene an den Rand, die nicht mehr mithalten können oder wollen. Andererseits gibt es auch konkrete Auslöser: Sei es die Klimakrise, der Umgang mit Prinzipien eines liberalen Rechtsstaats wie in Ungarn oder Polen, der Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 oder die ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine auf unser westliches Lebensmodell.
Die Teuerung der vergangenen Jahre hat den Menschen vor Augen geführt, wie gefühlt unsicher ihr eigener wirtschaftlicher Status ist. Auch wird vielen stärker bewusst, dass der Wandel zu CO2-Neutralität nicht, wie von mancher Politikern versprochen, ohne die Veränderung individueller und gesellschaftlicher Verhaltensweisen funktionieren wird. Die Wärmepumpen-Debatte in Deutschland war nur ein erster Vorgeschmack, weitere werden folgen, denn natürlich werden wir uns in Zukunft anders fortbewegen oder ernähren. Und genau dies wird von so mancher Personengruppe als Eingriff in individuelle Freiheiten und Verlust erlebt. Von anderen wiederum wird dies übrigens als Fortschritt wahrgenommen. Der Fortschrittsbegriff ist immer auch ideologisch aufgeladen.
Historisch gesehen war eines der zentralen Versprechen die Verbesserung der Arbeits- und Produktionsbedingungen durch den technischen Fortschritt. Bereits in der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts erleichterten mechanische Werkzeuge, Elektrizität, Dampf- und Wasserkraft die Herstellung von Produkten. Mit der Zeit profitierten auch die arbeitenden Menschen davon gesundheitlich, finanziell und von sinkenden Arbeitszeiten. In Österreich wurde die Arbeitszeit 1975 auf 40 Stunden begrenzt. Jetzt verspricht der digitale Fortschritt, dass viele Arbeitsbereiche autonom, also ohne Menschen, funktionieren werden. Gleichzeitig werden Forderungen nach einer Flexibilisierung von Arbeitszeitmodellen zurückgewiesen, weil wir, um den Fortschritt zu sichern, lieber mehr als weniger arbeiten sollen. Ansonsten deindustrialisiere Europa. Die nächste Verlustangst klopft an die Türe.
Fordern also die einen ein Mehr an Arbeit ein, um den Wohlstand zu sichern und zum technologisch-wirtschaftlichen Fortschritt beizutragen, sehen die anderen in einer Arbeitszeitentlastung durch den technologischen Fortschritt ein Mehr an gesellschaftlichem und kulturellem Fortschritt. Fortschritt ist und war also nie eindimensional, sondern von unterschiedlichen Vorstellungen über deren Richtung geprägt.
Gleichwohl sind die Verlustängste allerorten unübersehbar. Viele Menschen zweifeln daran, dass es ihnen in Zukunft bessergehen wird. Das Fortschrittsversprechen ist für sie brüchig geworden und die – wahrgenommenen – Zumutungen haben direkte Folgen für ihr politisches und gesellschaftliches Handeln. In Gruppen der Gesellschaft herrscht ein verbreitetes Gefühl, dass die Situation sich nicht mehr verbessert, es zu wirtschaftlichen, kulturellen oder Verlusten der Ordnung kommt oder kommen wird. Das eigene Lebensmodell werde nicht mehr besser, sondern schlechter. In solch einer Stimmung wird Besitzstandswahrung wichtiger, die Lust auf Veränderung nimmt ab.
Aber die Fortschrittsmüden sind nur eine gesellschaftliche Gruppe unter mehreren. Sie sind aktuell vermutlich deshalb so sichtbar in der Öffentlichkeit, weil es Menschen, Parteien und andere Organisationen gibt, die diese Gruppe rhetorisch bewirtschaften. Sie sind sogar ziemlich erfolgreich darin, ein Sprachrohr zu werden, indem sie ein Zurück in die Vergangenheit versprechen: in ein Damals, in dem noch alles gut war. Gleichzeitig stehen sie im politischen und gesellschaftlichen Wettbewerb mit jenen Strömungen, die den Fortschritt feiern.
Aber der Fortschritt kommt nicht im Singular daher, sondern in unterschiedlichen Vorstellungen von gesellschaftlichem, wirtschaftlichem und kulturellem Fortschritt. Und genau in diesem Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Fortschrittsrichtungen auf der einen und den Fortschrittsmüden auf der anderen Seite werden sich die Wahlen in der westlichen Welt in den kommenden Monaten mitentscheiden.
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