Eine grenzüberschreitende Mobilitätswende, die Umstellung zentraler Industriezweige auf eine Kreislaufwirtschaft, wirklich nachhaltige Lösungen für den Gebäudesektor: Dies sind fraglos einige der zentralen Herausforderungen der Vierländerregion Bodensee, zumal da der Verkehrs- und der Mobilitätssektor die Hauptverursacher von Co2 sind und hier daher auch die größten Hebel für Verbesserungen liegen. Um r zu evidenzbasierten, innovativen Lösungen zu kommen, bedarf es einer besonders engen Verzahnung von Wissenschaft und Praxis – so die Überzeugung des EU-Regionalprogramms Interreg VI Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein und des Wissenschaftsverbunds.
Drei neue Innovationskonsortien, kurz „Labs“, des Wissenschaftsverbunds zu diesen Themengebieten wird Interreg VI in den kommenden vier Jahren fördern. Teams aus 20 Hochschulen und 120 Organisationen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft hatten sich an der Ausschreibung beteiligt, in den ausgewählten Konsortien sind zehn Hochschulen und über 50 Praxispartner vertreten. Im Juni nehmen die Labs ihre Arbeit auf, die Vorbereitungen laufen aber bereits auf Hochtouren.
„Das Lab passt perfekt zum Fahrplan der EU“, freut sich Fabian Takas vom Institut für Betriebswirtschaft der Universität St.Gallen, der ein Lab initiiert hat. Tackacs und das Team des Circular Labs wollen Leuchtturmprojekte für eine Kreislaufökonomie in der Land- und Ernährungsindustrie sowie der Textilwirtschaft schaffen. Für letztere sieht die EU-Kommission unter dem Motto „Make fast fashion out of fashion“ bis 2030 sehr ehrgeizige Recyclingquoten vor, die auch die traditionsreiche Textilindustrie zwischen Schwäbischer Alb, Vorarlberg und der Ostschweiz „umtreiben werden“, wie Takacs prophezeit.
Zu den Vorreitern Sachen ökologischer Nachhaltigkeit zählt der Zürcher Taschenhersteller Freitag, der inzwischen seine gesamte Corporate Mission der Kreislaufwirtschaft verschrieben hat. Andere Praxispartner betreten Neuland, „aber aus dieser Diskrepanz entsteht Innovation“, ist Takacs überzeugt. Bis Ende dieses Jahres will das Lab in jedem Industriesektor jeweils ein Projekt begonnen haben.
Bewusst keinerlei starren, im Vorhinein durchgeplanten Projekte sind in der Konzeption des Mobilitäts-Lab definiert, wie Martin Dobler vom Institut für Business Informatics an der FH Vorarlberg erklärt: „Anders als in klassischen Forschungsprojekten können wir in den Labs eine aktivere, offenere Bürgerbeteiligung erreichen und überdies auf aktuelle Marktentwicklungen eingehen.“
In sechs Themenfeldern will das Lab daher, in Anlehnung an Methoden des agilen Projektmanagements, „in iterativen Schleifen“ arbeiten. Zunächst werden im Dialog mit den jeweiligen Stakeholdern deren Bedürfnisse abgefragt, danach wird ein Projekt aufgesetzt und nach einem halben Jahr evaluiert. Und nur wenn es weiterhin erfolgsversprechend erscheint, wird es fortgesetzt.
„Wenn wir bis Jahresende in vier Feldern Praxisprojekte starten können, ist viel erreicht“, sagt Dobler. Zu den Partnern gehören unter anderem die Stadt Winterthur und die Gemeinde Satteins, das Stadtwerk am See, die ZF Friedrichshafen AG, der Logistikdienstleister Gebrüder Weiss sowie das Energieinstitut Vorarlberg.
Zwei Jahre hat die Vorlaufphase für die zweite Lab-Runde gedauert – ein ungewöhnlich langer Prozess, der zwar laut Fabian Takacs, „auf der kulturellen Ebene das Zusammenfindens mit Unternehmen sehr lohnenswert“, anderseits aber auch mit der Herausforderung, diese an Bord zu halten.
Im Fall des dritten Labs, das sich mit Internet of Things Lösungen im Gebäudesektor befassen wird, führte dies zu einem Kuriosum: Zweimal innerhalb dieser Zeit wurde der Unternehmensbereich innerhalb der Bosch-Gruppe, der als Partner im Lab dabei sein wollte, umbenannt und umstrukturiert. Nun also gehört Bosch Smart Home zur Riege der Unternehmen im Lab. „Inhaltlich ist das ein Glücksfall“, sagt Sonja Meyer, Professorin für algorithmische Grundlagen digitalisierter Geschäftsprozesse an der HTWG Konstanz. Denn der Fokus auf den Zusammenhang von IoT und Nachhaltigkeit, die Kombination von Hard- und Software und die internationale Ausrichtung von Bosch Smart Home bildet viele der Aspekte ab, die das Konsortium erforschen will.
Es wird dabei vor allem eine oft übersehene Schattenseite der Digitalisierung in den Blick nehmen. Denn selbst wenn zum Beispiel die Heizungssteuerung in Sachen Energieeffizienz im Betrieb wirklich so smart ist, wie die Werbung behauptet, ist noch lang nicht ausgemacht, dass deren Ökobilanz über den gesamten Lebenszyklus hinweg auchgünstig ausfällt. Denn hierfür müsste man nicht nur die Herstellung der Hardware, sondern auch die mit der Entwicklung der Software und ihrem Betrieb verbundenen energetischen Aufwendungen in Rechnung stellen. „Diese Zahlen tauchen in der Stromrechnung nicht auf“, weiß Meyer, dabei ist der IT-Datenverkehr je nach Schätzung schon heute für 4 bis 10 Prozent des weltweiten Strombedarfs verantwortlich.
Im Rahmen des Labs will man zunächst ein Bewertungstool entwickeln, das mehr Transparenz schafft – eine komplexe, aus Meyers Sicht aber lohnenswerte Aufgabe: „Wir können uns damit ehrlich anschauen, wo die Digitalisierung einen Vorteil bringt und wo nicht.“ Für die Tests wird das Lab einen Standortvorteil der HTWG nutzen, denn im Ecolar- Forschungshaus auf dem Konstanzer Campus sind bereits einige IoT-Technologien verbaut. In der Fernperspektive wäre ein Gütesiegel ähnlich dem „Blauen Engel“ in Deutschland denkbar, näher liegen Blueprints für wirklich nachhaltige IoT-Geschäftsmodelle, die sich innerhalb bestimmter Produktsegmente übertragen lassen. „Das smarte WC und der smarte Wasserhahn dürften ähnliche Muster zeigen“, vermutet Meyer. Neben Bosch Smart Home sind unter anderem die Zumtobel Group AG, die Tridonic GmbH, die Anta Swiss AG, die Hunziker Partner AG, Swiss Recycling sowie die Städte Winterthur und Konstanz mit an Bord.
Was die neuen Labs des Wissenschaftsverbunds besonders spannend macht, sind die thematischen Querbezüge zwischen ihnen: Denn mit der Frage nach der nachhaltigen Herstellung von IoT-Produkten ist auch die nach ihrer Kreislauffähigkeit gestellt, und ohne eine optimierte Mobilitätskette eine ressourcenschonende Wirtschaft insgesamt undenkbar. „Die Labs agieren eigenständig, wir verstehen sie aber als Teil eines Programms“, sagt Markus Rhomberg, Leiter der Geschäftsstelle des Wissenschaftsverbunds. Eine eigene, an der FH Vorarlberg angesiedelte Koordinationsstelle und die personelle Unterstützung des Wissenschaftsverbunds sollen dabei helfen, Synergien zu erkennen und zu nutzen.
Bildnachweise: FH Vorarlberg, Universität St.Gallen, HTWG Konstanz