Was ist das: ein Museum oder doch ein Labor? Wer den Studiengang für Textil- und Bekleidungstechnologie der Hochschule Albstadt-Sigmaringen besucht, springt ständig zwischen den Epochen hin und her: hier eine historische Strickmaschine, dort ein mannshoher 3D-Scanner. Der Maschinenpark in der ehemaligen Textilfabrik Haux im Zentrum von Albstadt ist beinahe größer als die Zahl der 200 Studierenden. „Doch all diese Maschinen - von konventionell bis High-End - werden intensiv benutzt“, versichert Christian Kaiser, Prodekan der Fakultät für Engineering. Denn High Tech, davon ist Kaiser überzeugt, braucht eine handwerkliche Grundlage.
Dies gilt auch für die Aufgabe, in der für Experten wie Kaiser die Zukunft der europäischen Textilwirtschaft liegt: der Umstellung auf eine Kreislaufwirtschaft. Daran arbeitet er im Circular Lab, dem aus Interreg-Mitteln geförderten Forschungskonsortium des Verbunds, in dem sich Unternehmen und Wissenschaftler*innen der Vierländerregion zusammengetan haben.
Die Herausforderungen in der notorisch „schmutzigen“ Textilindustrie sind besonders hoch. Und sie resultieren nicht nur aus den planetaren Grenzen des Wachstums und regulatorischen Verschärfungen etwa der EU-Kommission, die unter dem Motto „Make fast fashion out of fashion“ bis 2030 sehr ehrgeizige Recyclingquoten durchsetzen will. Fakten wie schwindende Rohstoffvorkommen oder die massive textile Überversorgung der Konsument*innen in Industrienationen machen es auch ökonomisch notwendig, Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle radikal neu zu denken.
Wie radikal, zeigt das Vorhaben des Schweizer Taschenherstellers FREITAG. Mit Rucksäcken aus alten Lkw-Planen ist das Unternehmen zur Kultmarke geworden, doch um den Produktkreislauf zu schließen, ist ein ganz großes Rad zu drehen. Genau das versucht man seit 2021. Weil Kreislaufwirtschaft im Alleingang unmöglich ist, hat sich der Nachhaltigkeitspionier wieder in unbekanntes Terrain vorgewagt und für das Ziel einer recyclebaren Plane eine Allianz entlang der gesamten Planenlieferkette geschmiedet. Die Schweizer Unternehmen Planzer (Logistik) und Bieri Tenta (Konfektion) gehören genauso dazu wie der deutsche Textiltechnikpezialist Heytex und der Milliardenkonzern Covestro, einer der Weltmarktführer bei Polymermaterialien. Die erste Testflotte ist seit Herbst 2024 auf der Straße.
Eine der Herausforderungen: Das aktuell verwendete PVC ist unschlagbar günstig. Umso mehr gilt es, „innovative Monetarisierungsstrategien zu erarbeiten, die das zirkuläre Wirtschaften mit LKW-Planen langfristig skalierbar und wirtschaftlich überhaupt erst tragfähig machen“, erklärt Moritz Fierz, FREITAG Circularity & Sustainability Project Driver. Dafür greift FREITAG im Rahmen des Circular Lab auf die Expertise der Hochschule St. Gallen zurück. „Für uns ist die Mitarbeit im Lab eine wertvolle Möglichkeit, wissenschaftliche Expertise im Bereich Geschäftsmodell- und Ökosystementwicklung gezielt in die Praxis zu übertragen“, freut sich Moritz Fierz. Und Fabian Takacs vom Institut für Betriebswirtschaft der HSG betont: „Zirkuläres Wirtschaften muss sich für verantwortungsvolle Unternehmen auch lohnen.“ Ein Mutmacher soll das von ihm mitverfasste Buch „Der Circular Economy Navigator“ sein, das voraussichtlich im Juli 2025 bei Hanser erscheint und auch Best Practice-Beispiele aus dem Lab enthält.
Ebenfalls an neuen Materialien ist auch das Albstädter Unternehmen everve interessiert, das in Albstadt in Handarbeit Hosen und andere Produkte rund um den Radsport fertigt. Der Anspruch ist einfach: „Besser als das, was der Markt kennt.“ Mit dem Thema „Nachhaltigkeit“ setzt man sich dabei intensiv auseinander. Die größte Hürde dabei aus Sicht von everve-Mitgründer Andreas Wolfer: „Es gibt momentan keine nachwachsende Faser, die das Performancelevel bietet, das wir brauchen.“
Der Schlüssel wäre ein hochleistungsfähiger und gleichzeitig biobasierter, idealerweise kompostierbarer Rohstoff. Welche Optionen es dafür gibt, soll eine Forschungsarbeit klären, die derzeit im Rahmen des C-Labs an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen entsteht. Auch informell pflegt everve den Austausch mit der Hochschule, probiert immer wieder gemeinsam neue Materialien aus, berichtet Wolfer: „Hier gibt es viele Leute, mit denen man ganz pragmatisch reden kann.“
Wissenschaftler Christian Kaiser nutzt die Kooperation des Labs auch dazu, um über den Tellerrand der Textilindustrie hinauszuschauen. Ein Merkmal der Ernährungswirtschaft, auf das Kaiser neidvoll blickt, ist die für Kunden auf einen Blick nachvollziehbare, „breite Marktsegmentierung“, die jeder Supermarkt bietet: No Name vs. Marke, lokal vs. nicht-lokal, diverse Öko-Label – von solchen Differenzierungen könne die Textilwirtschaft noch einiges lernen. „Das stimmt“, bestätigt, Oliver Christ von der Ostschweizer Fachhochschule, der innerhalb des Labs die Projekte der Land- und Ernährungswirtschaft koordiniert. Synergien zwischen den Segmenten haben sich dabei überdies bei der Erstellung von Kennzahlen für die Messung und Steuerung der Zirkularität in verschiedenen Industrien und Unternehmen ergeben, die derzeit nur sehr vereinfacht existieren.
Zudem führen Christ und seine Kolleg*innen derzeit Umfragen mit Vertreter*innen aus Landwirtschaft, Verarbeitung, Gastronomie und Handel durch, um Potenziale, aber auch die „großen Knoten“ zu identifizieren, die es zu lösen gilt. Konkrete, pragmatische Lösungsansätze sollen in gemeinsamen Workshops mit Branchenvertreter*innen und Vertreter*innen der Politik erarbeitet werden. Zudem entwickeln das Landwirtschaftsteam des C-Labs ein Tool zur pragmatischen Bodenbewertung, das sich einer ebenso relevanten wie politisch brisanten Frage widmet: Welche Flächen sollen auf Grundlage von Parametern wie etwa dem Versiegelungsgrad oder Biodiversität in den nächsten Jahrzehnten wie entwickelt werden?
Am 12. Juni 2025 stellt das Circular Lab gemeinsam mit dem IoT Sustainability Lab und dem Sustainable Mobility Lab bei einem Demo Day im Campus Väre (Dornbirn) seine Ergebnisse vor. Bis zum 5. Juni können Sie sich hier anmelden.
Bildnachweis Titelbild: FREITAG