Wann bemerkt man, dass etwas ins Kippen gerät? Eine Freundschaft, eine Beziehung, ein Unternehmen, ein Ökosystem, die Demokratie oder eine Gesellschaft? In der Regel leider erst, wenn es zu spät ist. Denn das ist es, was einen Kipppunkt ausmacht: Die Beziehung ist nicht mehr zu retten, das Unternehmen bankrott, das Ökosystem gekippt und die Demokratie dahin.
Tipping Points nennt der Autor Malcolm Gladwell diese entscheidenden Momente, nach denen alles anders wird als zuvor. Solche Kipppunkte führen mitten hinein in die Wissenschaft komplexer Systeme. Und solche Systeme gibt es allerorten. Unser Körper ist ebenso ein System, wie die Organisation, in der wir arbeiten, unsere Familie, unser Sportverein, die Demokratie, in der wir leben oder das Wirtschaftssystem, in dem Güter produziert und versandt werden und dafür monetäre Gegenleistungen erfolgen.
In komplexen Systemen gibt es vielfältige Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Elementen, Akteuren, Rollen. Wenn das System funktioniert, herrschen Gleichgewichtszustände, die über längere Zeiträume konstant bleiben und es schaffen, kleine Veränderungen selbst zu korrigieren.
Eines der anschaulichsten Beispiele für ein komplexes System setzt sich aus Raupen, Vögeln und Bäumen zusammen. Im Idealzustand gleichen sich die “Kräfte” in diesem System aus. Raupen fressen Blätter von Bäumen. Die Raupen werden von Vögeln gefressen und die Blätter wachsen nach. Kleine Veränderungen kann das System selbst ausgleichen: Vermehren sich die Raupen zu stark, finden die Vögel sie leichter und der “Überschuss” wird gefressen. Gibt es hingegen zu wenige Raupen, zahlt sich die Suche für die Vögel nicht mehr aus und die Raupen können nachwachsen.
Wenn aber ein Teilelement einen bestimmten Wert überschreitet, verändert sich das gesamte System scheinbar plötzlich stark. Und das hat gravierende Folgen. Im Klimasystem werden von der Wissenschaft immer wieder das Abschmelzen des arktischen Meereises bzw. der Eisschilde in Grönland, auftauende Permafrostböden oder das Absterben des Amazonas-Regenwaldes als Kipppunkte genannt.
Gerade durch diese Beispiele aus der Klimawissenschaft ist das Konzept der Kipppunkte einem breiteren Publikum bekannt geworden. Tipping Points kennen wir aber schon länger und vor allem auch aus gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Die ersten empirischen Untersuchungen hatten ihren Ursprung in Fragen der Segregation in Wohnvierteln. Bereits in den 1950er Jahren stellte der Soziologe Morton Grodzins in den USA fest, dass in vielen Stadtvierteln weiße und afro-amerikanische Bürger*innen so lange in derselben Nachbarschaft lebten, bis der Anteil der afro-amerikanischen Bevölkerung auf 20 bis 30 Prozent anstieg. In dem Moment, in dem dieser Schwellenwert erreicht war, begann die weiße Bevölkerungsgruppe massenweise wegzuziehen. Grodzins bezeichnete diesen Moment als Tipping Point, denn der Wandel in der Bevölkerungsstruktur erwies sich als kaum mehr umkehrbar.
Schon kleinste Störungen können also zu großen Veränderungen führen, im Extremfall kippt das System beim Überschreiten eines Schwellenwertes sogar abrupt von einem in den anderen Zustand.
Damit ein gesellschaftlicher Kipppunkt erreicht werden kann, stellt Malcolm Gladwell drei Regeln auf: 1) das Gesetz der Wenigen, 2) die Verankerung oder 3) die Macht der Umstände.
Diese Beispiele zeigen: Gesellschaftliche Kipppunkte können zwar eine negative Schlagseite haben, sie können aber durchaus auch dazu führen, dass sich etwas zum Positiven wendet. Ganz gleich aber, ob wir bestimmte Kipppunkte als positiv oder negativ wahrnehmen: Wir müssen sie verstehen und vorhersagen können, wenn wir komplexe Systeme in der Gesellschaft beeinflussen möchten.
Markus Rhomberg
*1979 in Bregenz, ist Geschäftsführer des Wissenschaftsverbunds Vierländerregion Bodensee, einer internationalen Allianz von 25 Universitäten und Hochschulen.