March 7, 2024

Balancieren auf schrägem Boden

Markus Rhomberg
Geschäftsführung, Gremienbetreuung, Kommunikation und Partnerschaften

Wann bemerkt man, dass etwas ins Kippen gerät? Eine Freundschaft, eine Beziehung, ein Unternehmen, ein Ökosystem, die Demokratie oder eine Gesellschaft? In der Regel leider erst, wenn es zu spät ist. Denn das ist es, was einen Kipppunkt ausmacht: Die Beziehung ist nicht mehr zu retten, das Unternehmen bankrott, das Ökosystem gekippt und die Demokratie dahin.

Tipping Points nennt der Autor Malcolm Gladwell diese entscheidenden Momente, nach denen alles anders wird als zuvor. Solche Kipppunkte führen mitten hinein in die Wissenschaft komplexer Systeme. Und solche Systeme gibt es allerorten. Unser Körper ist ebenso ein System, wie die Organisation, in der wir arbeiten, unsere Familie, unser Sportverein, die Demokratie, in der wir leben oder das Wirtschaftssystem, in dem Güter produziert und versandt werden und dafür monetäre Gegenleistungen erfolgen.  

In komplexen Systemen gibt es vielfältige Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Elementen, Akteuren, Rollen. Wenn das System funktioniert, herrschen Gleichgewichtszustände, die über längere Zeiträume konstant bleiben und es schaffen, kleine Veränderungen selbst zu korrigieren.

Die Details bestimmen das große Ganze

Eines der anschaulichsten Beispiele für ein komplexes System setzt sich aus Raupen, Vögeln und Bäumen zusammen. Im Idealzustand gleichen sich die “Kräfte” in diesem System aus. Raupen fressen Blätter von Bäumen. Die Raupen werden von Vögeln gefressen und die Blätter wachsen nach. Kleine Veränderungen kann das System selbst ausgleichen: Vermehren sich die Raupen zu stark, finden die Vögel sie leichter und der “Überschuss” wird gefressen. Gibt es hingegen zu wenige Raupen, zahlt sich die Suche für die Vögel nicht mehr aus und die Raupen können nachwachsen.

Wenn aber ein Teilelement einen bestimmten Wert überschreitet, verändert sich das gesamte System scheinbar plötzlich stark. Und das hat gravierende Folgen. Im Klimasystem werden von der Wissenschaft immer wieder das Abschmelzen des arktischen Meereises bzw. der Eisschilde in Grönland, auftauende Permafrostböden oder das Absterben des Amazonas-Regenwaldes als Kipppunkte genannt.  

Gerade durch diese Beispiele aus der Klimawissenschaft ist das Konzept der Kipppunkte einem breiteren Publikum bekannt geworden. Tipping Points kennen wir aber schon länger und vor allem auch aus gesellschaftspolitischen Fragestellungen. Die ersten empirischen Untersuchungen hatten ihren Ursprung in Fragen der Segregation in Wohnvierteln. Bereits in den 1950er Jahren stellte der Soziologe Morton Grodzins in den USA fest, dass in vielen Stadtvierteln weiße und afro-amerikanische Bürger*innen so lange in derselben Nachbarschaft lebten, bis der Anteil der afro-amerikanischen Bevölkerung auf 20 bis 30 Prozent anstieg. In dem Moment, in dem dieser Schwellenwert erreicht war, begann die weiße Bevölkerungsgruppe massenweise wegzuziehen. Grodzins bezeichnete diesen Moment als Tipping Point, denn der Wandel in der Bevölkerungsstruktur erwies sich als kaum mehr umkehrbar.  

Schon kleinste Störungen können also zu großen Veränderungen führen, im Extremfall kippt das System beim Überschreiten eines Schwellenwertes sogar abrupt von einem in den anderen Zustand.

Es braucht keine Mehrheit

Damit ein gesellschaftlicher Kipppunkt erreicht werden kann, stellt Malcolm Gladwell drei Regeln auf: 1) das Gesetz der Wenigen, 2) die Verankerung oder 3) die Macht der Umstände.

  1. Der Kommunikationsforscher Damon Centola konnte zeigen, dass es keine Mehrheit braucht, um eine Stimmung zum Kippen zu bringen. Vielmehr reiche eine kritische Masse von 20 bis 30 Prozent. “Eine engagierte Minderheit kann, wenn sie gut vernetzt ist, Normen verändern und gesellschaftliche Dominanz erlangen”, erklärt Ilona Otto von der Universität Graz. Wenige gut vernetzte Schlüsselpersonen mit einem sehr großen Verbreitungspotenzial können also für einen Kipppunkt sorgen. Auf diesen Effekt setzen beispielsweise Klimaaktivist*innen, wir kennen ihn aber auch aus unserem privaten Umfeld: Wir gehen zum Beispiel in Restaurants, in denen schon viele andere Menschen sitzen oder installieren eine Solaranlage, wenn unsere Nachbarn auch schon eine auf dem Dach haben. Das ist das Gesetz der Wenigen.

  1. Kippen kann aber nur etwas, das in der Gesellschaft auf einen Nährboden stößt. Eine potenzielle Bereitschaft zum Wandel muss also bereits vorhanden sein. Und diese gilt es mit den richtigen Signalen kommunikativ zu “verankern”. Kampagnen, die in den USA Teenagern das Rauchen abgewöhnen sollten, scheiterten deshalb, weil sie diese Verankerung falsch setzten. “Nicht das Rauchen, der Raucher gilt als cool” schildert Gladwell. Also müsse weniger der Nikotingehalt oder der Tabakpreis korrigiert werden, sondern das Image von Raucher*innen.

  1. Sie kennen das vermutlich selbst: Ein Fahrrad ist an einem Ort abgestellt, an dem es eigentlich nicht abgestellt sein sollte. In der Regel passiert dann das: das Fahrrad bleibt nicht allein, sondern weitere Fahrräder gesellen sich dazu. Die Regelverstöße einzelner, begünstigen die Regelverstöße von weiteren Menschen und, zugegeben, auch unsere eigenen. Dieses Beispiel ist nicht konstruiert, damit prüfte der Sozialpsychologe Kees Seizer in den Niederlanden die Broken Window-Theorie. Die Umgebung hat also einen Einfluss darauf, wie wir uns verhalten. Ist es offensichtlich, dass andere bereits kleine Vergehen begangen haben, die nicht geahndet wurden, verleitet dies mehr Personen dazu, ebenfalls gegen Regeln zu verstoßen. Das ist also die Macht der Umstände.  

Diese Beispiele zeigen: Gesellschaftliche Kipppunkte können zwar eine negative Schlagseite haben, sie können aber durchaus auch dazu führen, dass sich etwas zum Positiven wendet. Ganz gleich aber, ob wir bestimmte Kipppunkte als positiv oder negativ wahrnehmen: Wir müssen sie verstehen und vorhersagen können, wenn wir komplexe Systeme in der Gesellschaft beeinflussen möchten.

Markus Rhomberg

*1979 in Bregenz, ist Geschäftsführer des Wissenschaftsverbunds Vierländerregion Bodensee, einer internationalen Allianz von 25 Universitäten und Hochschulen.

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