Tradiertes Wissen und Praktiken tragen im Umgang mit Mitmenschen und der Umwelt zur Erhaltung und Nutzung lokaler Ressourcen bei und prägen die Umgangsformen und gemeinschaftliche Aktivitäten sowie die besondere Ausstrahlung der Region. Gleichzeitig verändern Mobilitätsdynamiken wie Tourismus, Zu- und Abwanderung, demographischer und sozialer Wandel das immaterielle Erbe. Die Brauchtumspflege ist für Individuen und Gruppen ein dynamischer, offener Prozess. Der Brauch verändert und erneuert sich stetig durch kreative Weitergabe. Diese Dynamik im Spannungsfeld zwischen Mobilität und Immobilität bestimmt die Ausgangslage des vom Wissenschaftsverbund geförderten Projekts IMMOERBO:
Wie gehen immobile Träger*innen des kulturellen Erbes mit den Auswirkungen der (Hyper-)Mobilität um? Ist Mobilität per se eine Herausforderung für das immaterielle Kulturerbe? Wie gestaltet sich dabei das Spannungsverhältnis zwischen Immobilität und Mobilität? Wie wird das Erbe weitergegeben? Welche Steuerungsmöglichkeiten stehen den Akteur*innen zur Verfügung?
Dabei fokussiert sich die Untersuchung in erster Linie auf die Perspektive der Träger und Trägerinnen des kulturellen Erbes, hier insbesondere auf die getroffenen Entscheidungen zur Immobilität und Mobilität und auf deren Gedankenwelt. Das Forschungsprojekt knüpft an diese Ausgangslage und die skizzierten Fragenstellungen an und erarbeitet in Kooperation mit regionalen Akteur*innen Erklärungsmuster.
Vier Fallstudien, die zwischen 2020 und 2021 in der Bodenseeregion durchgeführt werden, demonstrieren die Vielfältigkeit der Modalitäten von Mobilität und Immobilität, die man bei der lokalen oder regionalen Pflege von Brauchtum vorfindet. Dabei zeigt sich, dass «Immobilität» und «Mobilität» kein Gegensatz, sondern zusammen auftretende Aspekte von Teilhabe, Raumnutzung und Identitätspflege sind. Menschen, Haltungen, Bilder und Ideen — letztlich die Kultur selbst — sind mobil. Zugleich ist für viele Individuen das Entscheidende neben der Bedeutung des Orts und der Gruppe auch das individuelle und gemeinschaftliche Erleben. Brauchtumspflege bleibt — im Gegensatz zur gängigen Wahrnehmung — stets ein offener Prozess, der Menschen als Individuen «ergreift» und Gruppen einen Anlass bietet, sich ihrer selbst zu vergewissern und im Namen der Vergangenheit Neues auszuprobieren.
Mit seiner auf den Träger*innen als Expert*innen ausgerichteten Untersuchung bringt das Forschungsprojekt IMMOERBO eine bislang wenig berücksichtigte Perspektive in den gegenwärtigen kulturpolitischen Diskurs ein und damit eine wenig wahrgenommene Dimension von Brauchtumspraxis als kreativem Spielplatz und partizipativ-ausgerichtetem Gemeinschaftsraum. Dieser aus aktuellen Erkenntnissen generierte Befund, der über die im Brauchvollzug sicht- oder hörbar gemachte kulturelle Leistung hinausgeht, zeigt, dass aus dem Handlungswissen der Träger*innen strukturell und gesellschaftspolitisch relevante Strategien zur Teilhabe (Konstitutionen von «communities through practice»), Governance und zeitgemäss-kreativer Weitergabe hervorgehen können.
Besuchen Sie «IMMOERBO — vier Geschichten von Brauchtum im Bodenseeraum» und navigieren Sie durch die interaktiven und multimedialen Storymaps, um mehr über die zentralen Projektergebnisse zu erfahren. Durch die Fülle der Zitate, des Fotomaterials und der interaktiven Visualisierungen wurden die Storymaps, über die Scientific Community hinaus, für unterschiedliche Nutzergruppen aufbereitet. Zudem ist der kurze Abschlussbericht zum Projekt auch für die Öffentlichkeit gedacht und online erhältlich.
Das Forschungsprojekt trägt damit zu einem tieferen Verständnis des immateriellen Erbes, der kulturellen Identität und zur Steuerung nachhaltiger Regionalentwicklung bei und ermöglicht Akteur*innen eine stärkere Vernetzung und gegenseitiges Lernen. Im Zuge des Forschungsprojekts sind zwei wissenschaftliche Publikationen geplant. Eine empirisch fundierte und theoretisch reflektierte Studie verleiht dem wissenschaftlichen Output und auch den auf das Kulturmanagement ausgerichteten Erkenntnissen des Projekts ein gewisses Gewicht verleihen.
Inhaltlich wurde mit dem von der IBH geförderten Forschungsprojekt „Cultural Mapping 4.0“ (Projekt-Lead:Prof. Dr. Patrick Laube) für die Erstellung von kartographischen Storymaps kooperiert und gegenseitige Synergien genutzt. Dank dieser neuen Möglichkeit zum interaktiven, visuellen Wissenstransfer können die Forschungsergebnisse für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Das Projekt wurde durch die Internationale Bodensee-Hochschule IBH in den Zeitraum 2020–2021 unterstützt. Das IMMOERBO-Projekt wurde getragen von der ZHAW Zentrum für Kulturmanagement (Projekt-Lead: Dr. Leticia Labaronne), der HTWG Konstanz, der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und dem Vorarlberger Landeskonservatorium (VLK).
Autorin des Beitrags ist Leticia Labaronne. Sie war die Projektleiterin und ist Leiterin des Zentrums für Kulturmanagement an der ZHAW.
Bildnachweis: Thomas Rickenmann