Ich war ziemlich naiv. Schnell merkte ich, dass meine Vorstellung von der Wissenschaft, relativ wenig mit dem zu tun hatte, was man „wissenschaftlichen Betrieb“ nennt. Denn wissen Sie, woran eine gute Forscher*in in der Wissenschaft gemessen wird?
Veröffentliche oder gehe unter! Lange Publikationslisten beflügeln im internationalen Forschungsbetrieb die Karriere. Wissenschaftler*innen produzieren immer schneller immer mehr Wissen. Das geschieht nicht nur in den mit Corona befassten Disziplinen, sondern ist ein generelles Phänomen. Sicherlich, gerade in solchen Situationen ist eine „schnelle“ Wissensproduktion wichtig und gerade die Pandemie hat an vielen Stellen gezeigt, wie hilfreich wissenschaftliche Lösungen und Beratung für politische und gesellschaftliche Entscheidungen sein kann.
Aber bereits vor der Pandemie schien unser Wissen zu explodieren: Allein im Jahr 2015 erschienen rund zwei Millionen wissenschaftliche Artikel. Pro Jahr steigt die Zahl an Publikationen um vier bis acht Prozent. Alle zehn bis 15 Jahre verdoppelt sich der wissenschaftliche Output. Ein Teil dieses Anstiegs lässt sich zwar dadurch erklären, dass es weltweit immer mehr Forschende gibt, gleichzeitig haben aber auch die Forschenden selbst ihre individuelle Publikationsleistung gesteigert.
Das hat auch viel damit zu tun, dass sich die Arbeit in der Wissenschaft selbst verändert hat: von einer „Ethik des Entdeckens“ hin zu einer „Ethik der Produktivität“, wie es Stephen Turner und Daryl Chubin nennen. Produktivität ist dabei eine gut klingende Beschreibung für die Messung der Anzahl von Publikationen, Zitationen und der Einwerbung von Drittmitteln.
Doch hohe Publikationschancen haben gerade nicht jene Aufsätze, die neue Ansätze entdecken, sondern jene mit „mäßiger Originalität nahe am Mainstream“, wie es Suleika Bort und Simone Schiller-Merkens für das Gebiet der Organisationsforschung zeigen konnten. Dabei bleibt kaum Platz für die Entdeckung neuer oder risikoreicherer Wege. „Erfolgreiche“ Forschende bewegen sich auf bereits ausgetretenen, publikationssicheren Pfaden. Risikoreichere Ansätze, bei denen man nicht zu Beginn bereits weiß, was am Ende das Ergebnis sein wird, sind dabei nicht unbedingt karriereförderlich.
Während der Pandemie wurden medizinische Fachzeitschriften wie „The Lancet“ mit Artikeleingaben überschwemmt. Bevor ein Artikel in einem solchen Fachmagazin erscheint, muss er von anderen Expert*innen in einem Peer Review-Verfahren evaluiert und freigegeben werden.
Dabei gilt: Je bekannter die Zeitschrift ist, desto besser für die Reputation und damit für die eigene Karriere.
Während der Pandemie ist zudem die Veröffentlichung von Pre-Prints, also Artikel, die noch kein wissenschaftliches Begutachtungsverfahren erfolgreich durchlaufen haben oder gerade mitten in einem solchen Verfahren stecken, ebenso stark angestiegen. Denn natürlich sind gerade in solchen Krisenzeiten schnelle Meinungen und Stellungnahmen der Wissenschaft in Politik, Medien und Öffentlichkeit äußerst gefragt.
Vorläufige Lösungen machen die Runde, „ohne dass man deren Auswirkungen bereits solide studiert hätte. Nur schon die Ankündigung ist sexy“, kritisiert der Wissenschaftsjournalist Eduard Kaeser in der NZZ. Es gehe vor allem darum, den anderen Nasenlänge voraus zu sein. Auch ethische Fragen der Ergebnisse und der Veröffentlichung würden im Geschwindigkeitsrausch auf der Strecke bleiben, ergänzt der Wissenschaftsforscher Daniel Sarewitz.
Zur Erhöhung der Geschwindigkeit hilft zudem die unglaubliche Verfügbarkeit von Daten. Früher mussten Daten in mühsamen Verfahren erst aufwendig selbst erhoben oder teuer gekauft werden. Forschende haben sich deshalb sehr genau überlegt, welche Daten sie zur Prüfung ihrer Hypothesen wirklich benötigen. Heute stehen aber Großinfrastrukturen zur Verfügung, die immense Datenmengen liefern. Auf dieser Grundlage lassen sich schnell massenweise Aufsätze schreiben und veröffentlichen.
Wirft man einen Blick über den Tellerrand der Wissenschaft hinaus, so ist das Phänomen einer beschleunigten Gesellschaft allgegenwärtig. Sie durchdringt die beruflichen und privaten Lebensbereiche. Man kann sich ihr zwar kaum entziehen, sie zumindest aber benennen: als Fast Food für den schnellen Verzehr von Speisen, als Fast Fashion für immer kürzere Rhythmen von Kollektionen mit dem impliziten Zwang sich immer öfter neu einzukleiden. Und ähnliches findet sich auch in der Wissenschaft unter dem Begriff der Fast Science.
Während der Corona-Pandemie ließ sich diese Kaskade beispielhaft beobachten: Die Aufmerksamkeit und das Interesse der Öffentlichkeit an der Wissenschaft stieg einerseits an. Andererseits erhöhte sich aber der Druck auf die Wissenschaft schnelle Lösungen zu präsentieren, um die Krise zu beseitigen.
Etwas als Phänomen benennen zu können hat zumindest einen Vorteil: Man kann sich davon abgrenzen und eine Alternative schaffen. So kennen wir alle die Slow Food-Bewegung und vermutlich auch Marken, die sich dem Konzept von Slow Fashion als Gegentrend verschrieben haben. Und ähnliches geschieht auch in der Wissenschaft. Slow Science basiert auf der Überzeugung, dass Wissenschaft ein stetiger, methodischer Prozess sein sollte und dass von Forschenden nicht „schnelle Lösungen“ erwartet werden sollten. Die Pandemie hat das Interesse Vieler an der Wissenschaft gesteigert, der verständliche Wunsch nach schnellen Lösungen in Krisenzeiten kann aber nicht zum Maßstab allgemeiner Forderungen an die Wissenschaft werden.
Der Text ist im Juni 2022 im Magazin Thema V erschienen.