August 7, 2022

Es geht nur noch um das Wie

Jens Poggenpohl
Redaktion und Kommunikation

Wie viel Digitalisierung muss und wie viel passt in den Mittelstand? Diese beiden Fragen stellte sich das IBH-Lab KMUdigital in der Gründungsphase 2017. Heute ist klar: Die Unternehmen der Vierländerregion müssen sich maximal digitalisieren, um ihre Spitzenposition zu wahren. Die ersten Mutmacher gibt es.

Die Idee ist alt und bestechend einfach: Man zahlt nicht für ein Produkt, sondern nur für den Gebrauch. Bei Strom oder Mietwagen ist das „Pay per Use“-Prinzip längst etabliert, und vor geraumer Zeit machte der Turbinenhersteller Rolls-Royce von sich reden, als er Airlines dieses Geschäftsmodell offerierte. Doch erst mit der umfassenden Vernetzung im Internet der Dinge und der Verfügbarkeit von Echtzeitdaten ist das Modell zu einer echten Alternative geworden. Neuerdings sogar für Spülmaschinen.

Die Welt der Großküchen ist eigentlich eine traditionelle Branche. Hier ist die Winterhalter GmbH in etwas mehr als sieben Jahrzehnten zu einem der ganz großen Player geworden, mit 350 Millionen Euro Umsatz und über 2.000 Mitarbeiter*innen. Es war also nicht die Not, die das Familienunternehmen aus Meckenbeuren im Bodenseekreis dazu zwang, seinen Kunden ein neues Bezahlmodell anzubieten. Was Geschäftsführer Ralph Winterhalter vielmehr antrieb, war ein urschwäbischer Impuls: „Wir wollten die Ersten sein.“ So erinnert sich Benjamin Köb, seit 2011 bei Winterhalter und inzwischen Leiter Digitale Services und Produkte.

Dem Markt voraus

Ende 2016 sorgten „Pay per Wash“ und das ebenfalls neue Angebot „Connected Wash“, das alle wichtigen Betriebsdaten der Maschinen auswertet und Optimierungsmöglichkeiten anbietet, in der Fachwelt für Furore. „Wir hatten zwischenzeitlich durchaus das Gefühl, dem Markt voraus zu sein, und für das Thema ‚Connected Wash‘ waren unsere Kunden anfangs noch nicht reif“, erzählt Köb. Fünf Jahre später sieht das anders aus — denn in Sachen Digitalisierung ist seither eine Menge passiert.

Wieviel, lässt sich auch an der doppelten Fragestellung ablesen, die das IBH-Lab KMUdigital im Vorfeld des Programmstarts 2017 formuliert hatte:

„Wie viel Digitalisierung muss und wieviel passt in den Mittelstand?“. Heute würde Oliver Haase, Informatikprofessor an der HTWG Konstanz und Leiter des Labs, die Frage anders formulieren. „Die Frage nach dem Muss stellt sich nicht mehr. KMU müssen maximal viel Digitalisierung umsetzen — das ist zu einer Überlebensfrage geworden.“
Über 40 Prozent der KMU urteilten “fehlende Dringlichkeit”

Vor wenigen Jahren sahen das Vertreter*innen von KMU der Region vielfach noch ganz anders. In einer um die Jahreswende 2018/2019 durchgeführten Umfrage des Lab-Projekts Data4KMU bescheinigten über 40 Prozent der Befragten dem Thema für ihr Unternehmen eine „fehlende Dringlichkeit“ — ein Befund, den die Projektleiter*innen Petra Kugler (OST) und Jürg Meierhofer (ZHAW) schon damals für „alarmierend” hielten. „Denn die Unternehmen bewegen sich dann gegebenenfalls in einer fälschlicherweise wahrgenommenen Sicherheit und sie realisieren nicht, mit welcher Geschwindigkeit Daten zu einem Teil der Wertschöpfung geworden sind.“

Den einen Fahrplan gibt es nicht

Das Bewusstsein sei dafür heute in den Vorständen vorhanden, glaubt Oliver Haase, „aber was die Tiefe der Geschäftsmodelle angeht, sind wir nicht Weltspitze“. Und nichts anderes kann der Maßstab in einer Region sein, die seit den 1970er-Jahren tonangebend in diesem Feld war. Damals hiess es: Automatisierung.

Was aber müssen die Weltmarktführer von heute tun, um morgen noch ebenso gut dazustehen? Den einen allgemeinen Digitalisierungsfahrplan gibt es nicht: Dies ist das Ergebnis des Projekts DigiNav. Es war eigentlich mit der Hoffnung angetreten, Standardrezepte zu entwickeln. Worauf es jedoch vielmehr anzukommen scheint, ist die individuelle unternehmerische Entscheidung. So war es auch bei Winterhalter, wie Benjamin Köb weiss.

„Man muss den grossen Zeh ins Wasser halten, um zu spüren, wann das Wasser wärmer wird“ — sprich: Das Know-how und die Strukturen müssen bereits vorhanden sein, bevor der Digitalisierungszug richtig Fahrt aufnimmt.
Auf dem Feld liegt noch viel Potenzial

Gleiches gilt für die regulatorischen Rahmenbedingungen und die Infrastruktur. „Die Corona-Pandemie hat hier mehr gebracht als die politischen Bemühungen“, sagt Oliver Haase. Ob beim Datenschutz oder der Cybersicherheit, dem Roll-out des 5G-Netzes oder der digitalen Bildung: Der Forderungskatalog der Unternehmen für eine digitale Agenda der Vierländerregion ist lange noch nicht abgearbeitet.

Wahr ist allerdings auch: „Am Unternehmerstammtisch wird mehr über die Politik geschimpft als über die eigene Prozessoptimierung gesprochen“ — sagt Beni Dürr, der in Sennwald im Rheintal mit seinem Unternehmen Verdunova Gemüse für Tiefkühltruhen produziert. Dürr ist immer schon eigene Wege gegangen, und insofern liess er sich gerne als Partner des Projekts DigiLand einspannen. Schauplatz des Projekts war ein Teil eines Broccolifeldes, in dem das Projekt genau 2.876 Broccolis von der Pflanzung bis zur Verarbeitung beobachtete und dabei eine Reihe von Prototypen testete.

„Gerade für die eher kleinteilige Landwirtschaft rund um den Bodensee ist es wichtig, durch technologischen Vorsprung ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten“, sagt Projektleiter Jürgen Prenzler, Leiter des Instituts für die Entwicklung mechatronischer Systeme an der OST in Buchs und vormals Leiter der Produktenwicklung beim Landmaschinenkonzern Claas.

Ausgangspunkt des Feldversuchs war der Umstand, dass der Landwirt zwar wusste, wie viele Broccoli er setzte, nicht aber, wie viel Stück er erntete. Das Gewicht ist als Indikator des Ertrags ungenau, schließlich wären weniger Setzlinge, die sich gut entwickeln, wesentlich effizienter als viele ertragsarme. „Denkt einfach!“ lautete Dürrs Wunsch an das Team, und so entstand in zahlreichen Diskussionen eine Reihe von praxistauglichen Problemlösungen: Ein intelligentes Erntemesser zum Beispiel, das anhand der Schnittführung registriert, ob gerade ein guter oder schlechter Broccoli geschnitten wurde. Oder ein Zähler mit Lichtschranke, der die Stückzahl misst; oder ein Hacksystem, das über optische Kameras Unkraut erfasst und ihm ausweichen kann. Auch die Überwachung mit Drohnen hat aus Dürrs Sicht noch viel Potenzial.

Die knapp 50 Landwirte, die Verdunova beliefern, haben den Ansatz der Präzisionslandwirtschaft verstanden. Kein Wunder: Bei 30 Prozent mehr Gewinn ist die Antwort auf die Frage nach der Digitalisierung ganz klar.

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